Der Flüchtlingsdoktor

Der Flüchtlingsdoktor

Jo Martin

In der über 50-jährigen Geschichte von Doctor Who glaubten wir, die Linie der Nachfolge zu kennen. Von Hartnell bis Whittaker schien die Kette ungebrochen. Doch im Jahr 2020, in einer unscheinbaren Episode mitten in der Ära des dreizehnten Doktors, zersplitterte dieses Wissen. Ohne Vorwarnung, ohne Regenerationseffekt und ohne große Ankündigung stand plötzlich eine Frau da, die behauptete, der Doktor zu sein. Sie war keine Zukunftsvision und kein Trick. Sie war ein verlorenes Kapitel, eine Inkarnation aus einer Zeit, an die sich der Doktor selbst nicht mehr erinnern konnte. Sie war härter, entschlossener und sie war auf der Flucht.


Teil I: Die Frau im Leuchtturm

Ruth Clayton und das falsche Leben

Als wir ihr zum ersten Mal begegneten, war sie nicht der Doktor. Sie war Ruth Clayton, eine freundliche, unauffällige Fremdenführerin, die in der Stadt Gloucester lebte. Sie feierte ihren 44. Geburtstag, aß Kuchen und lebte ein ruhiges Leben mit ihrem Ehemann Lee. Sie wirkte absolut normal, menschlich, harmlos.

Doch dieses Leben war eine Lüge. Als die Judoon – brutale Weltraumpolizisten in Nashorn-Gestalt – in Gloucester landeten, um einen Flüchtigen zu jagen, begann Ruths Fassade zu bröckeln. Lee, der mehr wusste, als er zugab, forderte sie auf zu fliehen.

Der entscheidende Moment kam, als Ruth in die Enge getrieben wurde. Instinktiv überwältigte sie den Judoon-Captain, riss ihm das Horn ab und entwaffnete ihn mit einer militärischen Präzision, die Ruth Clayton niemals hätte besitzen dürfen.

Es war eine „Chamäleon-Arch“-Tarnung, ähnlich wie beim zehnten Doktor, als er sich als John Smith versteckte. Ruth war ein Versteck. Darunter schlummerte ein Time Lord.

„Lass mich das ab hier übernehmen“

Die vollständige Enthüllung fand in einem alten Leuchtturm statt, in dem Ruth aufgewachsen war. Sie zerschlug eine Feuermelder-Box, und die Energie strömte in sie zurück.

Als der dreizehnte Doktor (Jodie Whittaker) ihr gegenüberstand, hatte sich Ruth verwandelt. Sie trug nun ein extravagantes Outfit: Ein buntes Hemd, eine Weste, einen langen Mantel im Militär-Schnitt und eine Sonnenbrille. Ihre Haltung hatte sich von ängstlich zu autoritär gewandelt.

Sie führte den dreizehnten Doktor zu einem nicht markierten Grab im Garten. Als sie den Grabstein zertrümmerte, lag dort kein Sarg. Dort stand eine TARDIS. Eine TARDIS in Form einer blauen Polizeizelle, deren Inneres jedoch das klassische, strahlend weiße Design der alten Tage (ähnlich dem ersten Doktor) aufwies.

„Wer bist du?“, fragte Jodie Whittaker.

„Ich bin der Doktor“, antwortete Jo Martin mit eiserner Ruhe.

Ein Doktor der Division

Dieser „Flüchtige Doktor“ war radikal anders als ihre modernen Nachfolger. Sie war kein „Märchenonkel“ oder „bester Freund“. Sie war eine Agentin. Wir erfuhren, dass sie für die „Division“ gearbeitet hatte, eine geheime Organisation der Time Lords auf Gallifrey, die verdeckte Operationen durchführte und sich in die Geschichte anderer Völker einmischte – etwas, das Time Lords offiziell verboten war.

Sie war desillusioniert von der Division, hatte ihren Dienst quittiert und war geflohen. Sie versteckte sich auf der Erde, verfolgt von ihren eigenen Leuten.

Im Gegensatz zum dreizehnten Doktor, die Waffen verabscheute, griff der flüchtige Doktor ohne Zögern zum Lasergewehr, um Feinde abzuwehren. Sie war pragmatisch, fast kalt. Als der dreizehnte Doktor moralische Bedenken äußerte, wies der flüchtige Doktor sie schroff zurecht: „Ich habe keine Zeit für deine Moralpredigten.“ Sie war der „Alpha“ im Raum, eine Version des Doktors, die noch nicht durch die Reisen mit Menschen „weich“ geworden war.

Das Geheimnis des zeitlosen Kindes

Die Existenz des flüchtigen Doktors war der erste greifbare Beweis für die Theorie des „Zeitlosen Kindes“. Sie passte in keine bekannte Lücke. Sie kannte den Schallschraubenzieher nicht (oder nutzte eine andere Version), kannte die Zerstörung Gallifreys nicht und erkannte Jodie Whittaker nicht als ihre Zukunft an.

Dies implizierte, dass sie eine Inkarnation vor dem ersten Doktor (William Hartnell) war – ein Leben, das dem Doktor von den Time Lords aus dem Gedächtnis gelöscht worden war. Sie war der lebende Beweis dafür, dass der Doktor viel älter war und viel mehr Leben gelebt hatte, als er jemals ahnte. Ein Geist aus einer gelöschten Vergangenheit.


Teil II: Jo Martin – Die Geschichte neu schreiben

Eine Londonerin mit Wurzeln

Jo Martin wurde in Newham, London, geboren. Ihre Eltern stammten aus Jamaika. Sie wuchs in einer bodenständigen Umgebung auf und musste sich ihren Platz in der Schauspielwelt hart erkämpfen. Sie war keine Absolventin der elitären Schauspielschulen, die oft den Weg zu großen BBC-Rollen ebnen.

Sie arbeitete jahrelang als solide Charakterdarstellerin im britischen Fernsehen. Sie spielte in der Comedy-Serie The Crouches, hatte eine Rolle im Kult-Hit Fleabag und war einem breiten Publikum vor allem als Neurochirurgin Max McGerry in der Krankenhausserie Holby City bekannt.

Das geheimste Casting aller Zeiten

Als Jo Martin für Doctor Who vorsprach, wusste sie nicht, für welche Rolle. Der Deckname des Projekts und die Geheimhaltung waren so extrem, dass sie dachte, sie würde für einen Bösewicht oder vielleicht eine Nebenrolle in einer Spin-off-Serie vorsprechen.

Als Showrunner Chris Chibnall ihr schließlich sagte: „Du bist der Doktor“, dachte sie zuerst, es sei ein Witz. Sie, eine schwarze Frau mittleren Alters, sollte die ikonischste Rolle des britischen Fernsehens übernehmen?

Doch Chibnall suchte genau das: Jemanden mit Autorität, mit Witz, aber auch mit einer gewissen Gefahr. Jo Martin brachte all das mit.

Der Moment der Sonnenbrille

Jo Martin erzählte später, dass sie erst in dem Moment wirklich „der Doktor“ wurde, als sie das Kostüm anzog. Das Kostüm war eine bewusste Hommage an frühere Doktoren (ein bisschen Pertwee, ein bisschen Colin Baker), aber mit einer eigenen Note. Als sie die Sonnenbrille aufsetzte, spürte sie die „Coolness“ und die Macht der Figur. Sie entschied sich, den Doktor nicht als verwirrten Reisenden zu spielen, sondern als jemanden, der absolut sicher ist, wer er ist. „Job done“, wie sie es nannte.

Ein historischer Meilenstein

Als die Episode Im Taumel der Zeit ausgestrahlt wurde, war die Reaktion gewaltig. Jo Martin war offiziell der erste schwarze Schauspieler, der den Doktor spielte (lange vor Ncuti Gatwa).

Für viele Fans, besonders für People of Color, war dies ein monumentaler Moment. Endlich sahen sie sich selbst in der Rolle des Zeitreisenden. Jo Martin war sich dieser Bedeutung bewusst. Sie sprach oft darüber, wie wichtig Repräsentation ist und wie stolz sie war, diese Barriere durchbrochen zu haben.

Trotz der Kontroversen um die „Timeless Child“-Handlung, die die Fangemeinde spaltete, war das Lob für Jo Martins Darstellung fast einstimmig. Sie hatte eine unglaubliche Bildschirmpräsenz. Viele Fans wünschten sich sofort eine eigene Serie oder zumindest Hörspiele mit ihr – ein Wunsch, der später von „Big Finish“ erfüllt wurde, wo sie nun ihre eigenen Abenteuer als Flüchtlingsdoktor erlebt.

Jo Martin heute

Jo Martin liebt die Rolle. Sie tritt auf Conventions auf und genießt die Interaktion mit den Fans („Whovians“). Sie hat eine ansteckende Fröhlichkeit und Demut, ist aber auch stolz auf ihren Platz in der Geschichte. Sie ist nicht nur eine Fußnote; sie ist der Beweis, dass das Universum von Doctor Who unendlich viel größer und geheimnisvoller ist, als wir dachten.

Sie ist der Doktor, der keine Fragen stellt, sondern Antworten gibt – meistens mit einem Laserblaster in der Hand und einem Lächeln auf den Lippen.


 

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