Was ist Doktor Who? Eine Chronik durch Raum und Zeit
Doctor Who ist mehr als nur eine Fernsehsendung. Es ist ein modernes Märchen, ein Stück britische Identität und die langlebigste Science-Fiction-Serie der Fernsehgeschichte. Wenn man versucht, das Wesen dieses popkulturellen Giganten zu fassen, muss man weit über die bloße Handlung hinausblicken. Es ist die Geschichte einer Idee, die zu gut war, um zu sterben – eine Saga über Veränderung, Hoffnung und eine blaue Telefonzelle, die innen größer ist als außen.
Der neblige Anfang: Ein Bildungsauftrag (1963)
Alles begann in einer Zeit des Umbruchs. In den frühen 1960er Jahren suchte die BBC nach einem Format, das die Lücke zwischen dem Fußballergebnis-Dienst am Samstagnachmittag und der Abendunterhaltung schließen konnte. Sydney Newman, der damalige Drama-Chef der BBC, hatte eine Vision: Eine Serie, die kinderfreundlich, aber nicht kindisch sein sollte. Sie sollte einen klaren Bildungsauftrag erfüllen. Wenn die Figuren in die Vergangenheit reisten, sollten die jungen Zuschauer Geschichte lernen; ging es in die Zukunft, stand Naturwissenschaft auf dem Plan.
Das Konzept drehte sich um einen mysteriösen, exzentrischen Großvater, der mit seiner Enkelin und zwei unfreiwillig entführten Lehrern in einem gestohlenen Raumschiff flieht. Dieses Raumschiff, die TARDIS (Time And Relative Dimension In Space), sollte sich eigentlich der Umgebung anpassen. Doch aufgrund eines technischen Defekts in der ersten Episode blieb die Tarnvorrichtung stecken: Sie behielt für immer die Form einer britischen Polizeinotrufzelle der 1960er Jahre.
Die erste Folge, „Das Kind von den Sternen„, wurde am 23. November 1963 ausgestrahlt. Das Timing hätte kaum schlechter sein können: Nur einen Tag zuvor war US-Präsident John F. Kennedy ermordet worden. Die Welt stand unter Schock, und die Premiere der Serie ging fast unter. Doch die BBC wiederholte die Folge – und das Schicksal der Serie wendete sich fast augenblicklich.
Die Dalek-Mania und der Bruch der Regeln
Eigentlich gab es eine eiserne Regel von Sydney Newman: Keine „Glubschaugen-Monster“. Doctor Who sollte seriös bleiben. Doch bereits im zweiten Abenteuer ignorierten die Macher diese Vorgabe aus purer Notwendigkeit, da keine anderen Drehbücher fertig waren. Sie führten die Daleks ein – mutierte, rassistische Wesen in metallischen Panzerungen, die alles Fremde mit dem Schrei „Exterminate!“ (Vernichten!) auslöschen wollten.
Entgegen aller Erwartungen wurden die Daleks sofort zum kulturellen Phänomen in Großbritannien. Kinder imitierten sie auf Schulhöfen, das Land verfiel der „Dalekmania“. Die Monster retteten die Serie vor der frühen Absetzung und machten sie zum Quotenhit. Aus dem Bildungsprogramm wurde ein spannendes Abenteuerformat.
Der Geniestreich: Die Erfindung der Regeneration
Drei Jahre nach Start stand die Produktion vor einer Katastrophe. Der Hauptdarsteller William Hartnell, der den ersten Doktor als mürrischen, aber brillanten alten Mann spielte, war schwer krank und konnte die Rolle nicht weiterspielen. Bei jeder anderen Serie hätte dies das Ende bedeutet. Doch die Autoren trafen eine Entscheidung, die Doctor Who unsterblich machen sollte.
Sie etablierten die Idee, dass der Doktor kein Mensch ist, sondern ein Time Lord vom Planeten Gallifrey. Wenn ein Time Lord stirbt, erneuert sich jede Zelle seines Körpers. Er erhält ein neues Gesicht und eine neue Persönlichkeit, behält aber seine
Erinnerungen.
So verwandelte sich der gebrechliche Hartnell 1966 in den chaotischen, flötenspielenden „kosmischen Landstreicher“ Patrick Troughton. Dieses Konzept der Regeneration erlaubte es der Serie, sich alle paar Jahre neu zu erfinden und dem Zeitgeist anzupassen, ohne die Kontinuität zu brechen.
Das Goldene Zeitalter und der lange Schal
In den 1970er Jahren wandelte sich die Serie erneut. Unter dem dritten Doktor (Jon Pertwee) wurde die Serie bunt und actionlastiger, fast wie ein James-Bond-Film mit Aliens, wobei der Doktor anfangs auf der Erde im Exil festsaß und mit der militärischen Organisation UNIT zusammenarbeitete.
Doch den Höhepunkt ihrer klassischen Popularität erreichte die Show ab 1974 mit Tom Baker, dem vierten Doktor. Mit seinen wilden Locken, dem absurd langen bunten Schal und einer Vorliebe für Gummibärchen („Jelly Babies“) prägte er das Bild des Doktors wie kein anderer vor ihm. Seine Ära war geprägt von „Gothic Horror“-Elementen, intelligentem Witz und hohen Einschaltquoten. Für eine ganze Generation wurde er der Doktor.
Der langsame Niedergang und das Schweigen (1989–2005)
In den 1980er Jahren begann der Stern zu sinken. Die Science-Fiction-Landschaft veränderte sich durch Hochglanz-Produktionen wie Star Wars oder später Star Trek: The Next Generation. Im Vergleich dazu wirkten die Pappmaché-Kulissen und Gummikostüme der BBC plötzlich billig und veraltet. Zudem mochte die damalige BBC-Führung die Serie nicht; sie galt als zu gewalttätig oder zu albern.
Die Drehbücher wurden komplizierter, die Sendeplätze ungünstiger. Trotz engagierter Schauspieler wie Sylvester McCoy (dem 7. Doktor) sanken die Zuschauerzahlen. 1989 zog die BBC den Stecker. Die Serie wurde nicht offiziell abgesetzt, sondern einfach „pausiert“ – eine Pause, die 16 Jahre dauern sollte.
Diese Phase wird heute als die „Wilderness Years“ bezeichnet. Doch Doctor Who starb nicht. Die Fans hielten die Flamme am Leben. Eine florierende Reihe von Romanen (die „New Adventures“) führte die Geschichte fort und machte sie erwachsener. Big Finish Productions begann, hochwertige Hörspiele mit den alten Darstellern zu produzieren.
Ein einziger Versuch der Wiederbelebung fand 1996 statt: Ein TV-Film, koproduziert mit den USA, sollte den Durchbruch in Amerika bringen. Paul McGann glänzte als 8. Doktor, doch der Film selbst war zu verworren für ein neues Publikum. Die geplante Serie ging nicht in Produktion. Wieder wurde es still um die TARDIS.
Die Wiederauferstehung: New Who (2005)
Im Jahr 2005 geschah das Wunder. Der walisische Drehbuchautor Russell T Davies, ein lebenslanger Fan, überzeugte die BBC, der Serie eine neue Chance zu geben. Seine Vision war radikal anders: Weg vom elitären Sci-Fi-Kult, hin zum emotionalen Familiendrama.
Der neue Doktor (Christopher Eccleston) trug keine viktorianischen Kostüme mehr, sondern eine Lederjacke. Er war traumatisiert von einem „Zeitkrieg“, in dem sein Heimatplanet Gallifrey zerstört worden war. An seiner Seite stand Rose Tyler, eine junge Verkäuferin aus London. Durch ihre Augen lernte das Publikum die Welt des Doktors neu kennen. Die Serie war plötzlich rasant, witzig, emotional und modern produziert.
Der Plan ging auf. Doctor Who wurde wieder zum Straßenfeger. Als David Tennant noch im selben Jahr die Rolle übernahm, explodierte die Popularität. Tennants 10. Doktor war charmant, romantisch und tragisch – ein Held, in den sich das Publikum verliebte. Diese Ära zementierte den Status der Serie als Flaggschiff der BBC.
Der globale Durchbruch und die Moderne
Unter der Leitung von Steven Moffat (ab 2010) und mit Matt Smith als 11. Doktor gelang der endgültige Durchbruch in den USA. Die Erzählweise wurde komplexer, märchenhafter. Zum 50. Jubiläum im Jahr 2013 wurde die Serie in Kinos weltweit simultan übertragen – ein Rekordereignis.
Auf Smith folgte der schroffe, philosophische Peter Capaldi, der wieder an die älteren Inkarnationen erinnerte. 2017 folgte dann der nächste historische Schritt: Mit Jodie Whittaker übernahm erstmals eine Frau die Rolle des Doktors. Dies löste zwar Debatten aus, bestätigte aber nur, was die Serie schon lange zelebriert hatte: Doctor Who ist im stetigen Wandel und hat keine festen Normen.
Doctor Who in Deutschland: Eine komplizierte Beziehung
Während der Doktor in Großbritannien Kulturgut war, blieb die TARDIS in Deutschland lange ein unbekanntes Flugobjekt. Erst Ende der 1980er Jahre, als die Privatsender aufkamen, landete der Zeitwanderer im deutschen Fernsehen. RTLplus (heute RTL) und später VOX sicherten sich die Rechte, stiegen aber kurioserweise erst spät in die Historie ein. Das deutsche Publikum lernte vor allem den 6. (Colin Baker) und 7. Doktor (Sylvester McCoy) kennen. Die Synchronisation war oft eigenwillig, die Sendeplätze ungünstig, und als die Serie 1989 in England pausierte, verschwand sie auch hierzulande schnell wieder in der Versenkung.
Mit dem globalen Neustart 2005 wagte ProSieben einen Versuch. Doch der Sender strahlte die ersten beiden Staffeln (mit Eccleston und Tennant) am Samstagnachmittag aus, teils geschnitten und quotentechnisch wenig erfolgreich. Nach der zweiten Staffel brach ProSieben die Ausstrahlung ab, was die deutschen Fans erneut in eine Wüste schickte. Die Rettung kam schließlich durch das Pay-TV: Der Fox Channel wurde zur verlässlichen Heimat für neue Folgen, oft sehr zeitnah zur UK-Ausstrahlung. Im Free-TV erbarmte sich schließlich der ARD-Spartensender One. Dort wurde die Serie nicht nur fortgeführt, sondern liebevoll gepflegt – mit Wiederholungen, Originalton-Optionen und ungeschnittenen Episoden fand Doctor Who hier endlich ein würdevolles Zuhause im deutschen Fernsehen.
Parallel dazu geschah etwas Bemerkenswertes auf dem Heimkino-Markt: Label wie Pandastorm Pictures und Polyband begannen ein Mammutprojekt. Sie lizensierten viele der „Classic Who“-Episoden, die nie zuvor in Deutschland zu sehen waren, ließen sie aufwendig neu synchronisieren und veröffentlichten sie auf DVD und Blu-ray. So kamen deutsche Fans Jahrzehnte später doch noch in den Genuss der Abenteuer des 1. bis 5. Doktors. Dass die deutsche Fangemeinde heute lebendiger denn je ist, beweist auch die TimeLash. Diese Convention hat sich als fester Treffpunkt etabliert, zu dem regelmäßig Stars und Macher der Serie aus Großbritannien anreisen, um mit den deutschen Whovians zu feiern.
Die Ära Disney+ und die Zukunft (Whoniverse)
Zum 60. Jubiläum dann der potentielle Schritt in Zukunft: Mit Disney hatte die BBC einen Partner gefunden, mit dem sie Doctor Who in eine neue Ära begleiten wollten. Doch die mit Spannung erwartete Partnerschaft zwischen der BBC und Disney+ entpuppte sich letztlich als kurzes, aber visuell gewaltiges Kapitel in der Geschichte der Serie. Nach nur zwei Staffeln mit Ncuti Gatwa und dem aufwendigen Spin-off „The War Between the Land and the Sea“ endete die Kooperation, womit die Serie erneut an einem Scheideweg steht. Die „Disney-Ära“ brachte zwar Blockbuster-Budgets und globale Aufmerksamkeit, doch kreative Differenzen und die strategische Neuausrichtung des Streamingdienstes führten zur Trennung.
Was bleibt, ist eines der größten Rätsel der Seriengeschichte: Das Finale der Ära Gatwa endete mit einem Cliffhanger. Die Regeneration des 15. Doktors führte nicht zu einem unbekannten Gesicht, sondern zu Billie Piper. Die Rückkehr der Schauspielerin, die einst als Rose Tyler die Serie wiederbelebte, nun aber als Inkarnation des Doktors selbst auftritt (oder ist sie etwas ganz anderes?), lässt Fans weltweit rätseln. Ob dies eine Rückbesinnung auf alte Stärken oder ein radikaler Neustart ohne Disney-Geld ist, bleibt die große Frage der kommenden Jahre. Die Zukunft des Whoniverse ist wieder völlig offen – und genau so mag es der Doktor am liebsten.
Was bleibt?
Das Phänomen Doctor Who lässt sich schwer in eine Schublade stecken. In einer Woche ist es ein historisches Drama über Vincent van Gogh, in der nächsten ein Horrorfilm über weinende Engelstatuen, dann wieder eine Weltraum-Oper.
Doch im Kern ist es immer die Geschichte eines unsterblichen Reisenden, der seinen Namen abgelegt hat, um ein Versprechen zu sein. Wie der Doktor einmal sagte: „Der Name, den du dir aussuchst, ist wie ein Versprechen, das du gibst.“ Und sein Versprechen ist simpel: Sei niemals grausam, sei niemals feige. Und iss niemals Birnen.
Das ist Doctor Who. Ein Universum voller Monster, aber auch voller Hoffnung, das zeigt, dass Intellekt und Mitgefühl die stärksten Waffen von allen sind.



